Montag, 9. Juli 2007

entmaterialisierung als versprachlichung

hier ein zugegebenermaßen sehr langes zitat, das aber marie-anne berrs anliegen treffend zusammenfasst und vielleicht auch für dich interessant ist. quelle: technik und körper, 1990.

Insofern ist das Sprachsystem nicht die Befreiung des Lebens, sondern dadurch wird der in der Antike begonnene Prozeß der Mensch-Werdung als ein formales immaterielles Begriffssystem vollendet: Die Erschaffung des Menschen und seiner Welt als immaterielle Systeme, die von der Natur, von der Materie – also auch von den Einflüssen und Impulsen seines Körpers – befreit sind. Die Vorstellung, die Idee Platons einer immateriellen, einer Welt der Schatten, der Mensch als immaterielles, erinnertes Zeichensystem scheint Realität geworden.

Der Diskurs der Antike repräsentierte die Sprache der Natur. Sie war die Systematisierung einer mit bloßem Auge, mit den leiblichen ›Sinneswerkzeugen‹ geschauten Natur. In ihr wurde die geschaute Natur in eine spekulative Ordnung gebracht – geschaffen als eine Ordnung in der Grammatik des Sprechers, dem Repräsentanten der göttlichen Ordnung. Noch waren die zu beobachtenden Einflüsse des Leibes zu stark, die Endlichkeit des Menschen so unausweichlich, noch fehlte der Spiegel einer sich selbst bewegenden unorganischen Materie, so daß das imaginierte menschliche Ideal Gott sein mußte.
Im Diskurs der klassischen Metaphysik war die beobachtete und dargestellte Natur immer schon eine in den Vorstellungen der Klassik reproduzierte. Die Beobachtung selbst wurde methodisiert, maschinisiert, womit der Leib als Sinneswerkzeug ausgeschlossen werden sollte, und an die Stelle der Sinne wurde die bloße, die kalte Vernunft als Erkenntnisorgan gesetzt. Das, was beschrieben wurde, war eine reproduzierte, eine in einem neu zu schaffenden logischen System vorgestellte Natur. Es war die Grammatik eines unorganischen Sprechers, dessen Vorstellungen sich in der Logik der klassischen, also der durch ihre materielle Form determinierten Maschinen bewegten.

Doch sowie mittels einer verfeinerten Technik und einer differenzierteren und zunehmend methodisierten Sprache die unsichtbaren Vorgänge, Ereignisse der Welt technisiert werden konnten, waren sich auch nicht mehr aus dem Diskurs ausgeschlossen, sondern wurde in der Logik des Systems beziffert oder neu beschrieben. Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wird es den Natur- und Technikwissenschaften deshalb zunehmend möglich, auch das Unsichtbare sichtbar zu machen und zu beziffern. Diese Möglichkeit der Sichtbarmachung und Bezifferung der Zwischenwelten entfaltete sich mit den Erkenntnissen über den Austausch von Wärmeenergie. Und ab diesem Zeitpunkt wurde begonnen, den Diskurs auch von der reproduzierten, unorganischen Empirie zu lösen, womit dieser – wie bei Sade – zur Rede der Überschreitung des Empirischen, der Materie geworden ist. Der Beginn der Diskursivierung des Unbewußten als das von/in der metaphysischen Vernunft ausgeschlossene ging mit der Beschreibung und Realisierung des Energieflusses einher.

Aber erst in diesem Jahrhundert konnte sich die Sprache völlig von der Materie befreien, war nicht mehr Zwischenwelt zwischen Materie, sondern reines Zeichen: mit der beginnenden Realisierung einer neuen Technik, mit den Elektronenrechnern. Mit dieser neuen Technik hat sich die technische Reproduktion von der Logik einer determinierenden Materie befreit. Die neue Maschine wird als immaterielles System definiert, in dem die mechanischen Anteile völlig aus ihrer Funktionslogik verbannt werden. Die neuen Maschinen funktionieren in einer symbolischen Logik, die die Sichtbarmachung der Vorstellung über die Kombinationsmöglichkeiten von Zeichensystemen realisiert.

In diesem Zusammenhang wird die Sprache – insbesondere seit der Jahrhundertwende – als ein unabhängiges System bestimmt, das sich von der Sprache des Sprechens unterscheidet. Das System der Sprache ist das universale, objektive System, wohingegen die Sprache, die Grammatik des Sprechers immer nur ein Ausschnitt dieses Systems sein kann. Mit dieser Bestimmung der Sprache fällt der aus dem metaphysischen Denken hervorgegangene Begriff des Menschen als Subjekt in sich zusammen. Denn hier ist der Diskurs des Sprechers nicht mehr – wie im klassischen Zeitalter – universell, sondern nur die ständige Annäherung an das bereits Gedachte. Mit der neuen Sprache verschwindet das sprechende Subjekt, das ›ich denke‹ und wird zu einem ›es/man denkt‹ oder ›es gibt‹ – im Sinne einer ständigen Bewegung des Denkens als das Herstellen von Nähe. (S. 197f)

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