Dienstag, 26. Juni 2007

agonie bei hcvh

zum seminar bei hcvh gestern, dem du ja unerlaubt und unerhört ferngeblieben bist. thema war baudrillard - das ganze zog sich, eher zäh, hin bis acht uhr. ich glaube, die meisten haben da ziemlich abgeschaltet. ich für meinen teil muss aber sagen, dass ich hellauf begeistert war. endlich habe ich das gefühl, baudrillards anliegen verstanden zu haben, das ganze simulationsgeschwafel wenigstens grob einordnen zu können.

entscheidendes ergebnis (und das war mir bislang in keiner weise klar): baudrillard betreibt keine erkenntnistheorie. will man baudrillard verstehen, muss man sich bewusst sein, dass seine theorie als eine theorie der zeichenpraxis, mithin semiotisch, zu verstehen ist. d.h.: agonie des realen meint gar nicht, dass man (als subjekt) vor dem fernseher sitzt und die bilder nicht mehr von der realität unterscheiden kann.

vielmehr geht es um eine weise des zeichengebrauchs, die das verhältnis des menschen zur welt bestimmt: das denken in modellen. mit nietzsche kann man sagen, dass menschliche weltzuwendung/-erfassung immer an sprache gebunden ist und also immer konstruktiv. und eben dieses verhältnis legt, so baudrillard, die dritte ordnung der simulakra, die simulation offen, während die (historisch und übrigens klar verortbar) vorhergehenden ordnungen dieses verhältnis prinzipieller künstlichkeit systematisch zu verdecken suchten.

"agonie des realen" ist also nicht das verhängnis des menschen, der plötzlich die wirklichkeit aus den augen verliert ("hilfe, was ist nur mit der wirklichkeit passiert, gestern war sie doch noch da?"), sondern eine zeichenpraxis, die die scheinbar unhintergehbare kategorie des realen dahin führt, wo sie hingehört. ad absurdum nämlich.

so etwa im groben. klingt vielleicht spanisch, scheint mir aber sehr erhellend.

nächste woche noch mal baudrillard, dann gleich zizek (insb. der perversionstext) - in den letzten sitzungen dann kevin kellys "out of control" und erik davis' "techgnosis". beides kommt auf metacoon.

2 Kommentare:

fermate hat gesagt…

Die dritte Ordnung der Simulakra ist also die Simulation - hab ich dich da richtig verstanden? Unser Verhältnis zur Welt ist also durch die Simulation bestimmt (denken in Modellen). Kann ich mir das dann so vorstellen, dass unser Weltverhältnis vergleichbar ist mit der wissenschaftlichen Erkenntnis durch das (positivistische, "simulierte") Experiment? Ich bau/ konstruier mir im Labor eine Apparatur, oder in unserem Fall eine Situation und erklär dieses Produkt meiner Weltwahrnehmung per definitionem als ein Ausschnitt aus der "Realität". Mit der Folge, dass Ergebnisse aus diesen Experimenten nicht nur in Bezug auf Wissenschaft richtig, sondern in Bezug auf Welt auch "wahr" sind?

Was ich jetzt nicht verstehe: Wie kann die Simulation dieses Verhältnis offen legen. Und was sind dann die erste und zweite Ordnung der Simulakra? In welchen Weltverhältnis befinde ich mich da. Und zu guter Letzt: Gibt es dann trotzdem sowas wie Realität und wir haben keinen Zugang zu ihr, oder ist die immer konstruiert. D.h. es gibt so viele Realitäten wie es Menschen gibt?

Oder befinde ich mich gerade auf dem erkenntnistheoretischen Holzweg? Aber was ist die Enttarnung dieser Zeichenpraxis anderes als Erkenntnistheorie?

Oh je, Fragen über Fragen. Ihr habt doch bestimmt einzelne Textpassagen genauer untersucht. Nächste Woche in Jena, musst du die mir mal zeigen.

telemat hat gesagt…

in aller kürze - am besten, wie unterhalten uns da direkt noch mal drüber, zum teil muss ich das auch für mich erst noch einmal ordnen:

die dritte ordnung der simulakra ist die simulation, korrekt. zuvor waren (in historischer folge gemeint) die ordnung der imitation (mimesis) und die der (industriellen) reproduktion.

deine einschätzung der simulation als (gedanken-) experiment trifft ebenfalls zu. dessen entscheidendes charakteristikum aber liegt nun im vorgriff. will heißen: die simulation enthält (zumindest tendentiell) alle möglichen verzweigungen als virtualitäten - was dann in der realität tatsächlich eintritt, kann nur noch eine aktualisierung des bereits in der simulation vorweggenommenen sein. genau darin liegt ja der sinn der simulation (bsp. flugsimulator).

was sich damit in der simulation erstmals (und insofern wahrer, als in den früheren stadien) offenbart, ist, dass ihre zeichenhaftigkeit (und eben zeichenhaftigkeit im allgemeinen) referenzlos ist: zeichen sind arbiträre zurichtungen, die nicht auf in irgendeiner form reale referentiale (die ohnehin nur aktualisierungen sein können) verweisen, sondern nur auf zeichen selbst.

dass baudrillard keine erkenntnistheorie betreibt, heißt nach meinem dafürhalten, dass es ihm nicht darum geht, ob der mensch irgendeine realität erkennen kann oder nicht. der witz ist nicht der (unmögliche) zugang zur realität, sondern die erkenntnis, dass das realitätsprinzip sich per se und a priori auf die menschliche zeichenpraxis nicht sinnvoll anwenden lässt.

ich weiß nicht, ob das zur erhellung beiträgt. das bild in meinem kopf ist noch dabei, sich zusammen zu fügen. aber das ziel erscheint mir greifbar und durchaus vielversprechend. ich ordne das noch mal ein bisschen und freue mich auf eine anregende diskussion am kommenden montag.